Kapitel Zwei
Am nächsten Tag brachte mir die Schulschwester, eine resolute Frau in ihren Fünfzigern, das Frühstück. Ihr ergrautes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihre Uniform war makellos. Mit unergründlicher Miene beobachtete sie mich, wie ich eine Schüssel Haferflocken und Zimt verschlang. Als ich fertig war, nahm sie mir die leere Schale ab. Aber sobald sich unsere Finger berührten, zuckte sie zusammen und zog ihre Hand so schnell zurück, dass sie fast die Schüssel fallen ließ.
“Zieh dich an.” Das war alles, was sie sagte, als sie den Raum verließ. Kein Bitte, kein Lächeln, kein gar nichts. Ich schluckte schwer. Sie fürchtete sich vor mir, genau wie der Deputy. Wenigstens hatte Ms. Farkas keine Angst gehabt. Oder dieser Lehrer Strickland.
Ich hatte keine anderen Klamotten als die, in denen ich am Vortag angekommen war. Mein Handy und Geldbörse waren irgendwo zwischen der Sheriffstation und der Akademie verschwunden. Die Krankenschwester wartete auf mich, als ich das Zimmer verließ. Ich fragte sie nach meinen Sachen, aber ich bekam nur ein Achselzucken und eine knappe Antwort: “Im Büro der Oberhexe gibt es ein Telefon. Wenn du genug Credits gesammelt hast, darfst du einmal pro Woche telefonieren.”
Als wir uns dem Ende eines langen Flurs näherten, öffnete sich eine Tür, und ein Mann trat ein. Sein strenges Gesicht blieb unbeweglich, als die Schwester mich aushändigte. Er stellte sich nicht vor, sondern gestikulierte, dass ich ihm folgen sollte.
Draußen war die Luft kühler als zu Hause. Ich fröstelte, vergaß aber mein Unbehagen, als ich die Ausmaße meines neuen Zuhauses sah. Die Akademie war viel größer, als ich angenommen hatte. Wie viele Kids wie ich lebten hier?
Ich war aus dem Flügel eines riesigen, U-förmigen Gebäudes getreten, das den Campus dominierte. Vor mir standen mehrere Containerkabinen. Sie waren eine neuere Ergänzung, denn ihr Stil passte nicht zum Hauptgebäude. Während sie wie moderne Schiffscontainer mit eingeschnittenen Fenstern aussahen, waren die großen Flügel und das Gebäude, das sie verband, drei Stockwerke hoch, mit einer Fassade, die teils mit Stein, teils mit Holz verkleidet war. Alles hatte einen Hauch von Vernachlässigung. Die Farbe blätterte ab, und einige der Fensterrahmen wiesen an der Unterseite eine Linie aus schwarzem Schimmel auf. Und doch, trotz des Verfalls, war es imposant in seiner Größe.
“Das war mal ein Hotel, damals, als ich noch ein Kind war. Allerdings wäre es eingestürzt, wenn die Regierung es nicht übernommen hätte.”
Mein Führer hatte endlich seine Stimme gefunden. Und er schien einigermaßen freundlich zu sein. Vielleicht würde er mir einige Fragen beantworten.
“Was sind das für Kabinen?”
“Das sind Unterrichtsräume für praktische Magie. Nachdem ein paar Schüler das Mag-Chem-Labor in die Luft gejagt haben, dachten wir, es wäre eine gute Idee, die magischen Partikel vom Hauptgebäude fernzuhalten. Natürlich gibt es jetzt so viele Schüler, dass die Kabinen auch als Ausweichlehrräume genutzt werden.”
Als er meinen Schock bei der Erwähnung von Explosionen bemerkte, lachte er.
” Keine Sorge. Magische Chemie steht erst im zweiten Jahr auf deinem Lehrplan.”
Ich nickte, atmete tief durch und bewunderte die saubere, mit Kieferngeruch geschwängerte Luft. Hinter den Gebäuden beherrschten hohe Bäume die Aussicht. Offenbar waren wir von einem Wald umgeben.
In diesem Moment wandte sich der Mann ab in Richtung der anderen Seite des großen Platzes zwischen den Akademieflügeln. Ich beeilte mich, mit ihm Schritt zu halten, und stolperte dabei fast über einen Stein, der einen breiten Streifen festen Bodens säumte, der vom Hauptgebäude wegführte.
“Wo führt dieser Weg hin?”
Der Wachmann drehte sich um und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Während ich wartete, zogen sich seine Augenbrauen zusammen und sein Blick verhärtete sich.
“Hör zu, Mädchen. Lass mich dir einen Rat geben. Dies ist deine einzige Chance, das wiedergutzumachen, was du getan hast. Denk nicht mal daran, wegzulaufen. Es gibt einen hohen Sicherheitszaun rund um die Anlage. Und wir sind in der Lage, dich magisch zu orten. Wenn du versuchst zu fliehen, war’s das für dich. Dann wirst du von Leuten geschnappt, die nur auf Narren wie dich warten. Nicht jeder ist so tolerant wie wir gegenüber magischen Fehlentwicklern.”
Fehlentwicklern? Mir fiel das Herz in die Hose. Ich hatte nicht erwartet, dass ich hier die bösen Worte meiner Eltern zu hören bekam. Vielleicht war ich naiv, aber ich hatte gedacht, an einem Ort des Lernens würde mehr Akzeptanz für das herrschen, was ich geworden war. Offensichtlich nicht.
Die Worte des Kerls bestätigten, was mir im Büro des Sheriffs gesagt worden war. Ich war eine Gefangene, festgehalten gegen meinen Willen. Ich drückte meine Fäuste gegen meine Augäpfel und zwang mich, nicht zu weinen. Du bist zäh. Du wirst das durchstehen. Ich wiederholte das Mantra immer und immer wieder in meinem Kopf, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Dann ließ ich meine Hände fallen und lächelte strahlend.
Der Mann nickte. “Braves Mädchen”, sagte er schroff, bevor er sich auf den Weg zu dem hundert Meter entfernten Gebäude machte.
Als wir an der letzten der quadratischen Baracken vorbeikamen, öffnete sich die Tür des Klassenzimmers und mehrere Schüler strömten heraus. Sie waren so laut und ungestüm wie die Kids an meiner Highschool.
Eine große, schwarz gekleidete Gestalt war der letzte, der ging. Der Typ sah auf eine Emo-Art gut aus. Dunkles, glänzendes Haar fiel über ein Auge, und ein silberner Ohrring, geformt wie ein Kreuz, fing das Licht genau richtig ein. Sein Gesicht war blass mit einer leicht aufgeworfenen Nase und wunderschönen Lippen, die selbst sein schwarzer Lippenstift nicht verbergen konnte.
Einer seiner Freunde rief über seine Schulter zurück, und Emo Boy lachte. Von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich sein Gesicht in einen Ausdruck purer Freude. Seine dunklen Augen funkelten, und sein Grinsen spaltete sein Gesicht von Ohr zu Ohr.
Er drehte seinen Kopf, und für eine Sekunde hielt er meinen Blick fest, als sein Lächeln von breit zu etwas wurde, das nur für mich bestimmt war. Und das war’s. Mein Gesicht erhitzte sich, und mein Magen krampfte sich zusammen. Als er wegging, stand ich wie angewurzelt auf der Stelle und starrte ihm nach. Was war gerade passiert? Wer war er? Und warum hatte ich so eine verrückte Reaktion auf ihn?
Die Stimme meines Begleiters unterbrach meinen mentalen Ausraster. “Na komm schon. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.”
Hinter seiner Stichelei versuchte er, ein Grinsen zu verbergen. Ich rollte die Augen, so dass er es nicht sehen konnte, und folgte ihm durch die Tür ins Gebäude. Er zeigte auf das Ende des Korridors.
“Du bist bei den Erstsemestern im ersten Stock. Dein Zimmer ist 105.”
Er nickte zum Abschied und ließ mich dort stehen. Ich öffnete den Mund, um nach weiteren Details zu fragen, aber er war schon draußen und ging zügig davon.
Verdammt, ich hatte noch so viele Fragen. Teilte ich mir das Zimmer mit jemand anderem? Wie sah mein Tagesablauf aus? Woher würde ich Kleidung bekommen? Seufzend ging ich den Korridor entlang. Wenigstens hatten sie versucht, den Gang zu verschönern. Die Wände waren in einem frischen Hellgelb gestrichen. Aber der Boden war mit einem grauen Linoleum bedeckt, das an einigen Stellen rissig war. Das musste schon Jahrzehnte alt sein.
Als ich in meinem Studentenzimmer ankam, klopfte ich. Niemand antwortete, also drückte ich die Türklinke und betrat das Zimmer. Die Sonne strömte durch ein großes Fenster und beleuchtete einen kahlen, rechteckigen Raum.
Es gab nichts Persönliches an den Wänden, keine Bilder, keine Dekoration. Entlang der Wände standen drei Einzelbetten, einige billige Regale und gerade genug Platz für winzige Schreibtische neben jedem Bett.
Eine schmale Tür befand sich schräg gegenüber von dort, wo ich stand. Als ich hinüberging und sie öffnete, fand ich einen kleinen Raum mit einem Waschbecken und einer Toilette. Wenigstens würde ich nicht mitten in der Nacht den Flur hinunterlaufen müssen, um mich zu erleichtern.
Ich schloss die Tür und blickte auf die Betten. Eines davon war mit mehreren Koffern belegt, das andere verbrannte mir fast die Netzhaut mit psychedelischen rosa und gelben Streifen. Das dritte Bett war mit billigen weißen Bettbezügen bezogen, und ein Ordner lag auf dem Kissen. Das war meins, vermutete ich.
Die Matratze fühlte sich dünn und klumpig an, als ich mich darauf setzte. Die Laken waren synthetisch und fadenscheinig, nicht wie mein Bett zu Hause. Ich wippte versuchsweise und erschrak über das Knarren und Ächzen des Bettgestells. Dieses klapprige Ding würde zusammenbrechen, wenn ich mich zu schnell umdrehte.
Seufzend streckte ich die Hand aus und öffnete den Ordner. Darin befand sich ein billiger Block mit ein paar Stiften, etwas, was die Schulordnung zu sein schien, ein Stundenplan und einige andere Informationen. Als ich mir den Stundenplan durchlas, wurden meine Augen groß. Zumindest in den ersten paar Monaten hatte ich Unterricht von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags mit einer Stunde Mittagspause. Ich nahm an, dass wir auch Hausaufgaben aufbekommen würden. Also würde es kaum Freizeit geben. Einfach großartig.
Dann las ich die Beschreibungen der Klassen, und mir fiel die Kinnlade herunter. Einige der Kurse waren wie in jeder anderen High School, aber andere hatten Namen wie Elementarmagie 101 und Geschichte der Magie. Auf der Rückseite des Stundenplans stand ein Vermerk:
Bitte beachte, dass es dir aufgrund deines besonderen Status an der Akademie nicht erlaubt ist, den Unterricht zu versäumen. Wenn du es dennoch tust, wirst du nach dem Ermessen des Klassenlehrers oder Lehrerin bestraft. Bei einem zweiten Verstoß wird dir dein Studentenstatus entzogen und du machst dich strafbar.
Ich starrte mit großen Augen auf den Text. Da war er. Der Beweis, dass ich, egal wie normal die Akademie schien, anders war als die anderen Schüler. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich genug zusammengerissen hatte, um den Rest des Pakets zu überprüfen.
Es gab ausführliche Anweisungen, wie man die Waschmaschinen benutzte und wo man Essensmarken kaufen konnte. Ich runzelte die Stirn. Ich hatte kein Geld und keine Ahnung, woher ich neue Kleidung bekommen sollte. Ich schnupperte an meinen Unterarmen. Ja, dieses Hemd würde keinen weiteren Tag überstehen.
Ich stand auf und zog mein Hemd, meine Jeans und meine Unterwäsche aus. Das Waschbecken in dem winzigen Badezimmer war zu klein, um meine Kleidung darin zu waschen, aber auf dem Weg hierher war ich an den Gemeinschaftsbädern auf dem Flur vorbeigekommen.
Was sollte ich anziehen, während meine Kleidung trocknete? Mein Blick fiel auf das Laken auf meinem Bett. Das würde reichen müssen. Also streifte ich es von der Matratze und machte mir eine provisorische Toga. Nicht der Gipfel der Mode, aber gut genug.
Ich schnappte mir meinen Stapel schmutziger Kleidung und ging zur Tür. Ich schaute schnell nach links und rechts, um sicherzugehen, dass die Luft rein war, eilte ins Bad und begann mit der mühsamen Aufgabe, meine Kleidung im Waschbecken mit Handwaschseife zu waschen. Zwanzig Minuten später hatte ich sie so sauber wie möglich bekommen.
Sie zu waschen war allerdings eine Sache. Sie zu trocknen war eine ganz andere. Besonders meine Jeans würde ewig brauchen. Ich schnappte mir mein triefendes Kleiderbündel und eilte zurück in mein Zimmer.
Als ich die Tür öffnete, blieb ich abrupt stehen. Ein Mädchen in meinem Alter, mit kurzen braunen Haaren und schönen hellbraunen Augen, saß auf dem psychedelischen Bett. Sie sah mich und brach in Gelächter aus.